AVIVA-Berlin >
Buecher
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 14.12.2007
Die Mittagsfrau. Der Roman von Julia Franck erzählt vom Verstummen
Anna Opel
Eine Mutter lässt ihr Kind auf einem Bahnsteig zurück. Die Autorin spürt der Vorgeschichte einer wahren Begebenheit nach und schafft eine bemerkenswerte Frauenfigur. Deutscher Buchpreis 2007
Zwei Monate nach Ende des Zweiten Weltkrieges eilen eine Mutter und ihr knapp achtjähriger Sohn mit gepackten Koffern zum Stettiner Bahnhof. Kurz vor dem Aufbruch ist die Mutter in der eigenen Küche von einem Soldatentrupp vergewaltigt worden. Peter hat derweil auf der Treppe gewartet. Am Bahnhof will Peter um keinen Preis die Hand seiner seltsam wortkargen Mutter loslassen. Doch sie geht. Und kommt nicht wieder.
Dann beginnt die Erzählung noch einmal von vorne. Peters Mutter Alice ist selbst sieben Jahre alt und heißt Helene. Es ist der Vorabend des Ersten Weltkrieges. Helene lebt mit ihrer neun Jahre älteren Schwester Martha und ihren Eltern in Bautzen. Die Mutter leidet an einer schweren Psychose, nachdem vier Söhne totgeboren wurden. Das Kind, das danach noch kam, Helene, kann sie nicht annehmen. Die Mutter ist außerdem als Jüdin und Großstädterin mit ihren ausgefallenen Hüten in jeder Hinsicht Außenseiterin in Bautzen. Der Vater ist gutmütig und der wirren Mutter blind ergeben, doch muss er in den Krieg. Gleich zu Anfang unehrenhaft verwundet, schleppt er sich einbeinig und einäugig nach Hause, wird dort von seinen Töchtern gepflegt und stirbt.
Die Töchter lassen ihre immer verschrobener und bösartiger werdende Mutter in der Obhut einer gutmütigen Haushälterin und gehen nach Berlin. Die Zukunft beginnt mit einer aufregenden Zugfahrt und der Gewissheit, sich aus der Provinz gerettet zu haben. Doch kommt für die beiden begabten jungen Frauen alles anders als erhofft.
Es folgen turbulente Jahre im Berlin der Zwanziger. Helene will Medizin studieren, arbeitet als Schwester im Krankenhaus, weiß nicht, woher das Geld für ein Studium nehmen. Ihre Schwester Martha lebt mit Leontine, ihrer Geliebten aus Bautzen, ein unstetes Partyleben. Die Schwester ist außerdem drogenabhängig.
Der Unfalltod ihres innig geliebten Freundes und Verlobten Carl Wertheim stellt die entscheidende Zäsur in Helenes Leben dar. Sie hat plötzlich keine Richtung mehr.
So willigt sie nach ein paar Jahren emotionaler Taubheit in die Ehe mit dem dumpfen Ingenieur Wilhelm ein, der sie, die schöne Blonde mit der "unsauberen Herkunft", vor den Nazis rettet. Um sie ganz zu besitzen und in der falschen Annahme, sie sei noch Jungfrau, beschafft Wilhelm Helene neue Papiere. Von Anfang an hatte er sie mit einem selbst ausgesuchten Vornamen angesprochen und damit auch die Person, die sie bis zu diesem Zeitpunkt gewesen war, beherzt vom Tisch gewischt: "ab heute heißt du Alice".
Das kann nicht gut gehen und tut es auch nicht. Nach Wilhelms Enttäuschung in der Hochzeitsnacht sind die Karten dieser Verbindung völlig neu gemischt. Der Gatte behandelt seine Frau ab diesem Zeitpunkt wie ein Ding, das ihm gehört. Helene lässt alles geschehen. Sie hat keine Alternative. Die Hoffnung auf Glück hat sie – schon vor Wilhelms Erscheinen – endgültig aufgegeben. Und damit auch sich und ihr Mitteilungsbedürfnis, vielleicht auch ihr Mitteilungsvermögen.
Von dem, was dann noch kommt, soll nicht zuviel verraten werden, denn dieses Buch ist nicht nur eindringlich und souverän geschrieben, es bleibt spannend bis zum Schluss. Die Isolation, die Beschränktheit auf die essentiellen Dinge des Lebens während der Zeit der Verfolgung, sind es, die Julia Franck in ihrem Roman neu und überzeugend gestaltet, ohne jemals zu viel auszusprechen. In der Enthaltsamkeit gegenüber der Schilderung äußerer Umstände liegt das ästhetische Programm dieses Buches. Und das hat vieles für sich, in einem Werk, das vom Verstummen handelt. Andererseits wirkt die Strenge, mit der die innere Perspektive beigehalten wird, manchmal allzu rigoros. Selten drängt sich der Verdacht auf, es könnten mit dieser Methode blinde Flecke der Geschichte kaschiert worden sein. Die Folgen eines persönlichen Schicksalsschlags und die Auswirkungen der Naziherrschaft auf Helenes Umfeld sind in der Geschichte zum Beispiel untrennbar miteinander verwoben.
Das ändert nichts an der Kraft, die diese Erzählung insgesamt ausstrahlt. Die Leserin wird Zeugin einer Abkapselung, die dazu führt, dass eine Mutter dem eigenen Kind gegenüber von Anfang an eine geradezu brutal wirkende Neutralität pflegt. Und dadurch fatalerweise die selbsterlittene Geschichte des ungeliebten Kindes wiederholt.
Niemals wird der Leserin erklärt, warum sich die Protagonistin für oder gegen etwas entscheidet, niemals werden ihre Gefühle, ihre Perspektiven in der Totale offenbart. Die Protagonistin bleibt in ihrem stummen Schmerz rätselhaft. Wie durch die Augen des kleinen Peter beobachten wir sie. Ohne je ganz zu verstehen.
Julia Francks sachlicher Ton wirkt wie eine Droge. Im Ergebnis der Lektüre bleibt der Wermutstropfen, dass hier ein beeindruckendes Konzept verloren hat, weil es zu starr durchgeführt wurde. Das Thema der Unmöglichkeit des Richtigen im Falschen, das in der zweiten Hälfte dieses Romans literarisch ausgearbeitet ist, besitzt jedenfalls Gültigkeit weit über den Bezug zum Dritten Reich hinaus.
Zur Autorin: Julia Franck wurde 1970 in Berlin (Ost) geboren. 1978 reiste die Familie aus. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt "Der neue Koch", danach "Liebediener" (1999), "Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen" (2000) und "Lagerfeuer" (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman "Die Mittagsfrau" erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007.
Sie wurde u. a. mit dem 3sat-Preis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs 2000 ausgezeichnet und mit dem Marie-Luise Kaschnitz-Preis 2004. Julia Franck lebt mit ihren zwei Kindern in Berlin.
(Quelle: Verlagsinformationen, S. Fischerverlage)
AVIVA-Tipp: Francks ausgezeichneter Roman entfaltet durch seine konsequent eingehaltene Innensicht und die Drastik der Lebensumstände, in denen die Protagonistin sich immer wieder einrichten muss, einen bemerkenswerten Sog.
Der kleine Junge auf dem Bahnsteig war, so heißt es, Julia Francks Vater. Und die Autorin hat, um sich Antwort auf die Frage zu geben, unter welchen Umständen wohl eine Frau ihr Kind verlassen würde, mit diesem Roman die Geschichte ihrer Großmutter erfunden.
Julia Franck
Die Mittagsfrau
S. Fischer Verlag, September erschienen 2007
Euro (D) 19,90, SFR 35,40 (UVP)
432 Seiten, gebunden
ISBN: 3100226003
EAN: 9783100226006