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Beitrag vom 28.01.2002
Hannah Arendt: Die verborgene Tradition
Gastautorin
Eine faszinierende philosophische Forschungsreise, die zum Nachdenken auffordert
Wer das Leben und die eigene menschliche Existenz für eine ganz einfache Sache hält, braucht dieses Buch nicht und sollte besser die Finger davon lassen. Hannah Arendt stört und verstört ihre Leserschaft. Brillant und konsequent betreibt sie Aufklärung in der Tradition Kants, der wie sie in Königsberg lebte.
Mit Nachdruck fordert sie zum Denken auf. Ihr Problem ist das, was ihr weh tut. Aber ihre Überzeugung ist immer, dass dieser ultimative Schmerz - die Hölle auf Erden durch die Schrecken der Nazis - nicht selbstverständlich ist. Die hier vorliegende Sammlung von Essays aus den 40er Jahren sucht nach Antworten, wie der Terror und das Überleben möglich war. An Beispielen aus Kunst, Literatur oder Film zeigt Arendt die Identifikationsfiguren der Unterdrückten.
Schlemihl - Chaplin - Superman
Die verborgene Tradition - das ist die verdrängte Geschichte der gesellschaftlich Stigmatisierten, der Juden - als Volk wie als einzelne Menschen. Arendt sieht keineswegs einen Prozess langsamer Emanzipation der Unterdrückten. Im Gegenteil: Sie geht aus von Heinrich Heines Konzept des "Schlemihl und Traumweltherrschers", voller Sympathie mit der "göttlichen Frechheit" des großen Düsseldorfers und selbstbewußten Juden, der seiner Heimatstadt bezeichnenderweise noch immer peinlich ist. "Unschuld ist das Kennzeichen des Stammbaums derer von Schlemihl". Heine hat noch Götter, man kann es greifen, wie sehnsüchtig-hoffnungslos Hannah Arendt ihn um diese Möglichkeit beneidet.
Aber sie gibt sich auch in diesem Punkt keinen Illusionen hin. Stattdessen spürt sie den verbliebenen Möglichkeiten der Paria-Künstler nach, eine für sie und ihr Schicksal repräsentative Großfigur zu schaffen, und findet etwa die Figur des Tramp, wie er von Chaplin einzigartig verkörpert wird, der großen Identifikationsfigur der Massen seiner Zeit. Denn er ist die Figur des "kleinen, erfindungsreichen, verlassenen Juden, der aller Welt suspekt ist" und zugleich unendlich sympathisch. In die Zeit nach Auschwitz reicht seine Integrationskraft nicht mehr hinein:
"Nicht Chaplin, sondern der Superman wurde nun der Liebling des Volkes."
Kafkas K.
Schlemihl hat seine Götter, der Tramp die List und die Subversion. Franz Kafka aber, dem Arendts größte Aufmerksamkeit gilt, hat diese Möglichkeiten nicht. Sein K., geht weit hinaus über die alte Ordnung von Paria und Gesellschaft: als einer, "der angeklagt ist, ohne zu wissen, was er getan hat, dem ein Prozess gemacht wird, ohne dass er herausfinden kann, nach welchen Gesetzen der Prozess und das Urteil gehandhabt werden, und der schließlich hingerichtet wird, ohne je erfahren zu haben, worum es sich eigentlich handelt". Der Joseph K. betrifft dann nämlich tatsächlich alle, jede und jeden ohne Ausnahme. Die soziale Seuche Antisemitismus ist wie alle Seuchen prinzipiell wahllos.
Ohnmacht und Handlungsfähigkeit
Dieses Buch, wie Hannah Arendts Denken überhaupt, ist eine faszinierende philosophische Forschungsreise. Ihr Ziel: Spielräume zu entdecken für eigenes Denken und Handeln in einer Welt, die den Menschen diese Spielräume raubt und unterschlägt, die sie zur Apathie verdammt.
Arendt diagnostiziert, dass eine Gesellschaft, die Parias produziert, im Prinzip keinen von der Ausgrenzung verschont. Fühlt euch alle mal nicht zu sicher, sagt sie - und entlässt in der Tat niemand aus der Verantwortung für solche Zustände. Ihr Zorn "gilt nicht nur den Tyrannen, sondern auch und gerade dem Volk, das den Tyrannen erträgt".
Sie weiß, wovon sie spricht. Nichts davon ist im Laufe der Jahre irrelevant geworden, im Gegenteil. Ihr übermächtiger Feind, die institutionalisierte Unmenschlichkeit, ist keineswegs besiegt. Was sie ihm aber immer wieder entgegensetzt, ist die Fähigkeit zum Nachdenken. Daraus folgt ihr der Entschluss zur Handlung mit aller Energie. Unverzichtbar dafür ist aber die Fähigkeit zum Bündnis.
Und damit gibt sie den Menschen nach Auschwitz etwas Kraft und Mut: mit der Erkenntnis, "dass es eben doch verhältnismäßig viele Noahs gibt, die auf den Weltmeeren herumschwimmen und versuchen, ihre Archen so nah wie möglich aneinander heranzusteuern."
Jüdischer Verlag, Ffm. 2000
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