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Beitrag vom 20.10.2008
Anne D. Peiter - Komik und Gewalt
Christiane Krämer
Die Dissertation "Komik und Gewalt. Zur literarischen Verarbeitung der beiden Weltkriege und der Shoah" der Germanistin durchschreitet ein halbes Jahrhundert Literaturgeschichte
Die Studie untersucht das Wechselspiel von Komik und Gewalt in ausgewählter Literatur zwischen 1900 und den 1960iger Jahren. Dabei stellt sich angesichts des Grauens des ersten und zweiten Weltkriegs und der Vernichtung von Millionen von Menschen mit Theodor W. Adorno die Frage, inwiefern überhaupt eine Textbearbeitung dieser Thematiken möglich sei. Das Wagnis geht die Autorin ein, indem sie Texte wählt, "die der Furchtbarkeit von der Realität standhalten, d.h. Stand suchen gegen sie"", und somit einen ethischen Anspruch verfolgen.
In den Texten von Karl Kraus, Veza Calderon-Canetti, Elias Canetti und Victor Klemperer spiegelt sich der Erste Weltkrieg, der zunehmende Antisemitismus und Antifeminismus der Zwischenkriegszeit, der Zweite Weltkrieg und die Shoah.
Im Kriegsdrama "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus, welches nach Ende des ersten Weltkriegs veröffentlicht wurde, untersucht Peiter Elemente von Komik und Gewalt. Sie zeigt, wie das Motiv des pervertierten Karnevals in Form eines unkritisch gefeierten Nationalismus bei Kraus den Wahnsinn des Tötens und des Krieges offen legen kann.
Peiter stellt sich in den folgenden Kapiteln basierend auf dem Karnevalsbegriff des Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin die Frage, inwiefern Komik erkenntnisstiftend wirkt, oder von einem gewaltsamen Gelächter erschüttert wird, das spätestens mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten zum Instrument gesellschaftlicher Unterdrückung geworden ist. So bietet die Autorin eine Interpretation des Kierkegaard Textes "Die Wiederholung" an, in dem das Lachen nicht als subversiv, sondern als die Diktatur unterstützend gelesen werden kann.
Wie auch die widerständige Literatur dieser Zeit muss die Autorin daher neue Strategien entwickeln und zieht zur Interpretation der politischen Implikation des Gelächters "der Krausianer" die Kulturtheoretiker Walter Benjamin, Elias Canetti und Soma Morgenstern heran, die sehr unterschiedliche Potenziale oder Gefahren in den Texten Kraus ausmachen.
Ein zweiter Schwerpunkt stellt dann das Werk von Veza Calderon-Canetti dar, die als jüdische und behinderte Autorin bereits Anfang der 1930iger Jahren eine sarkastische wie präzise Analyse der sprachlichen Unterdrückung und Diskriminierung von Behinderten als nationalsozialistische Vorbereitung des "Euthanasie-Programms" leistet.
Zur Autorin: Anne D. Peiter ist Dozentin an der Université de la Réunion (Frankreich). In der Publikation "Mütterliche Macht und väterliche Autorität. Elternbilder im deutschen Diskurs", herausgegeben im Auftrag des Minerva Instituts für deutsche Geschichte Universität Tel Aviv von José Brunner, hat Anne D. Peiter den Beitrag "Mutterschaft und Macht im Werk von Veza Calderon-Canetti und Elias Canetti" veröffentlicht.
AVIVA-Tipp: Die Wiederentdeckung Calderon-Canettis Romans "Die gelbe Straße" gehört ebenso zur besonderen Leistung dieser Dissertation, wie das Skizzieren der widersprüchlichen literarischen Geschichte des Lachens im 20. Jahrhundert zwischen Widerstand und Affirmation.
In intertextueller Lektüre stellt Peiter neue Bedeutungshorizonte der vorgestellten Texte her und zeigt schließlich anhand dieser, wie Stereotype und kulturelle Massensymbole grausam und wirkungsmächtig, vor "komischer Verfremdung" aber nicht sicher sein können. Ein umfangreicher und spannender Beitrag zur deutsch-jüdischen Kultur- und Literaturgeschichte.
Das wissenschaftliche Weblog zum Thema "Komik und Gewalt" finden Sie unter: komikundgewalt.wordpress.com
Anne D. Peiter
Komik und Gewalt. Zur literarischen Verarbeitung der beiden Weltkriege und der Shoah
Gebunden, 454 Seiten
Böhlau Verlag, erschienen 2007
ISBN 978-3412242060
59,90 Euro